Die Welt steht Kopf

Web first bei der Welt

"Die Welt" setzt auf Web first: Alle Nachrichten erscheinen zuerst online. Fraglich ist, ob diese kleine Revolution nicht Opfer fordert.

Radikale Umwälzungen, besonders im eigenen Haus, passen so gar nicht zum bürgerlich-konservativen Habitus der "Welt" und des Springer Verlags. Trotzdem: "Das ist fast eine Revolution", sagte Christoph Keese, Chefredakteur der "Welt am Sonntag" und von Welt Online, Ende letzten Jahres in Berlin. "Alle Nachrichten werden ab sofort zuerst im Internet veröffentlicht", lautete die revolutionäre Parole – oder kurz: Web first.

Außenstehende – sofern sie es überhaupt mitgekriegt haben – mögen wohl müde gelächelt haben. Zumal im Internet-Zeitalter die Web first-Devise eine Selbstverständlichkeit sein sollte. Ist es aber nicht. Für Journalisten stellt diese Publikationsform eine Revolution dar. Hier zu Lande (in der Schweiz! T.M.) gibt es keine Zeitung, die konsequent Online first praktiziert. Undenkbar, dass eine Sonntagszeitung ihre wohlgehüteten Primeurs bereits am Mittwoch im Internet gratis publizieren würde.

Im Ausland wird Web first von US-Zeitungen schon länger praktiziert. In Großbritannien geben seit letzten Sommer der "Guardian" oder die "Times" bei heißen News dem Web den Vorzug.

Seitenabrufe auf Welt Online um 40 Prozent gestiegen
Das neue Credo hatte auch eine tiefgreifende Reorganisation zur Folge. Die "Welt", ihre handlichere Ausgabe "Welt Kompakt", die "Welt am Sonntag" und der Kooperationspartner "Berliner Morgenpost" sowie zwei Online-Ausgaben werden in Deutschlands größtem Newsroom produziert.

Ende Februar wurde dann der Vorhang für die neue Welt Online gelüftet. Die Seite wirkt übersichtlich und elegant. Bei den Inhalten wurde nicht gespart: Eine TV-Sendung sendet mehrmals täglich die neuesten Nachrichten als Video, dazu gibt es verschiedene Podcasts. In der Blog-Rubrik schreiben neben Redakteuren nun auch bekannte deutsche Blogger. Alle Ressorts können als Feeds abonniert werden, alle Artikel lassen sich kommentieren.

"Wir wollen damit eine der besten und innovativsten Nachrichtenseiten im Lande sein", verkündete Chefredakteur Keese zum Start selbstbewusst. Fast schon gönnerhaft wird auf die wichtigsten Schlagzeilen von Mitbewerbern wie Spiegel Online, FAZ.NET und Tagesschau.de verlinkt und deren Logo abgebildet. Zweifel, das Nutzer seinem Angebot abtrünnig werden könnten, hat Keese keine: "Im Internet versucht man nicht mehr, Leser auf seiner Seite zu fesseln, sondern man motiviert sie, so oft wie möglich zurückzukommen."

Tatsächlich scheint das Umstellen auf den Web first-Rhythmus bei den Nutzern gut anzukommen: Im Januar steigerte sich Welt Online gegenüber dem Vormonat um 40 Prozent. Mit 49 Millionen Seitenabrufen ist man aber noch weit vom Branchenprimus "Spiegel Online" entfernt, der 403 Millionen aufweist. Die beiden härtesten Konkurrenten unter den Tageszeitungen, FAZ.NET und Sueddeutsche.de, sind mit je 73 Millionen Seitenabrufen noch um einiges voraus.

Dass die mit "Entschlossenheit und Geschwindigkeit" vorangetriebene Online-Offensive den Springerblättern schaden könnte, glaubt der 42-jährige nicht: "Unser Wachstum im Internet steht nicht im Widerspruch zum Erfolg der Zeitungen. Je mehr Menschen wir für uns gewinnen, desto erfreulicher entwickelt sich das Anzeigengeschäft." Weltweit gäbe es Hunderte von Beispiele für die reine Anzeigenfinanzierung im Internet.

Auch redaktionell wäre das neue Prinzip unproblematisch. "Niemand wird zum Multimedia-Journalisten, der alle Formate in allen Medien bespielt. Jeder Journalist hat Stärken und Schwächen.", sagt Keese im Gespräch mit der "SonntagsZeitung". "Bei uns können alle ihre Stärken entfalten: Wer besonders gut Reportagen schreibt, veröffentlicht vorwiegend in den Zeitungen, wer schnell gute Hintergründe und Kommentare verfassen kann, legt seinen Schwerpunkt auf Online." Dass jeder alles macht, sei weder erwünscht noch wünschenswert."

Bemerkenswert ist, dass die Redaktion von Welt Online seit Sommer 2006 von einem altgedienten Print-Redakteur geleitet wird. Oliver Michalsky war 20 Jahre lang "bei der Zeitung", wie er in einer Druckbeilage zum Start des neuen Portals mitteilt. Der Redaktionsleiter wendet sich an die "liebe Zeitungsleserin" und an den "lieben Zeitungsleser": "Ich will vor allem auch nicht sagen: Kündigen Sie Ihr Zeitungs-Abo, lesen Sie nur noch im Netz, da finden Sie ohnehin viel mehr, als in der Zeitung steht – und das, was Sie finden, finden Sie viele Stunden früher als in gedruckter Form." Ein Plädoyer für die Zukunft der Print-Ausgabe ist das nicht. Aber Revolutionen fordern nun mal Opfer.

+++ Update 2. April 2007: Passend dazu die Artikel aus der aktuellen "Financial Times Deutschland": "Springer-Chef will Papier abschaffen" und aus der "Welt": "Die Zukunft der Zeitung ist digital".

Der Artikel erschien zuerst am 11. März 2007 in der in Zürich erscheinenden "SonntagsZeitung", der ich hierfür herzlich danke.

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Im Internet:
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Roland (Gast) - 2007/06/16 18:18

Multimedia-Journalisten, Online-First und die Zukunft der Redakteure


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